Offener Brief über den „liturgischen Ausnahmezustand“
Offener Brief über den „liturgischen Ausnahmezustand“
von Andrea Grillo
(Deutsche Fassung)
Originaltext in Italienisch am 27. März 2020 im blog: „Come se non“:
http://www.cittadellaeditrice.com/munera/come-se-non/
veröffentlicht.
Der vorliegende offene Brief über den „liturgischen Ausnahmezustand wird den Theologinnen und Theologen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Theologiestudentinnen und -studenten zur freien Unterschrift angeboten
Reaktionen können über zwei Wege erfolgen:
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über das Facebook-Profil von Andrea Grillo, um einen Kommentar mit der eigenen Zustimmung und einem Hinweis auf die eigene akademische Position abzugeben,
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über eine @mail an andreagrillo61@gmail.com mit den gleichen Angaben.
Hier der Text des offenen Briefes
Offener Brief über den „liturgischen Ausnahmezustand“
An
Theologinnen und Theologen,
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler,
Theologiestudentinnen und -studenten
Die große liturgische Tradition, die die Kirche in ihrer Gnaden- und Sündengeschichte begleitet und unterstützt, steht unter dem Eindruck des Stöhnens der Menschen und Nationen in dieser Pandemiekrise, die allen, die krank sind, Leid und Bedrängnis, allen anderen Isolation, Einsamkeit und Angst bringt. Dadurch ändert sich der vertraute Rhythmus der Fasten- und Osterzeit, er wird untergraben und er vereint in dem gemeinsamen Leiden.
Wir hätten es jedoch nie für möglich gehalten, dass kirchliche Autoritäten ausgerechnet jetzt zwei Dekrete veröffentlichen, die das Leiden der Gläubigen eher noch vergrößern dürften: Es geht um die Dekrete Quo magis und Cum sanctissima, die die Kongregation für die Glaubenslehre am 25. März 2020 veröffentlicht hat.
Es wundert uns nicht, dass diese Kongregation ihre Aufmerksamkeit auch der Liturgie widmet. Aber besonders bemerkenswert und einzigartig ist die Tatsache, dass sie Ordines modifiziert, Präfationen und Festformulare einführt, Kalendarien und Kriterien der Rangordnung liturgischer Feiern modifiziert – und all das bezogen auf das Messbuch vom 1962.
Wie ist all das möglich?
Ohne Frage nimmt hier die Kongregation höchste Autorität in Anspruch, indem sie sich auf das Motu Proprio Summorum Pontificum bezieht, das vor 13 Jahren veröffentlicht worden ist. Da jedoch „die Zeit größer als der Raum“ ist, versteht sich auch, dass das, was auf normativer Ebene möglich ist, nicht zu jedem Zeitpunkt angemessen sein kann. Dann ist entscheidend, dass die Logik des Geschehenen kritisch reflektiert wird.
Im Laufe der Zeit ist das Paradox sichtbar geworden, dass den Bischöfen und der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung Kompetenz in Bezug auf die Liturgie genommen worden ist. Zwar sollte das MP Summorum Pontificum zu einer feierlichen Befriedung und großzügigen Versöhnung führen. Aber bald führte es zu einer ernsthaften Spaltung und zu einem weit verbreiteten Konflikt, entwickelte sich sogar zum Symbol einer Ablehnung des Zweiten Vatikanischen Konzils durch die Liturgie.
Dass die ursprünglichen Absichten grundlegend verfehlt wurden, lässt sich heute in jenen Diözesanseminaren feststellen, in denen künftige Priester gleichzeitig in zwei verschiedenen Riten ausgebildet werden sollen: dem konziliaren Ritus und dem Ritus, der diesen leugnet. All dies erreichte in den vergangenen Tagen seinen surrealen Höhepunkt mit der Veröffentlichung der beiden genannten Dekrete. Sie markieren den Höhepunkt einer nicht mehr tolerierbaren Verzerrung der Verhältnisse, die sich wie folgt zusammenfassen lässt:
– Die Kongregation für die Glaubenslehre übernimmt die Kompetenzen, die das Zweite Vatikanum den Bischöfen und der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung zuschreibt;
– sie arbeitet „liturgische Varianten“ der Ordines aus, ohne über die historischen, textbezogenen, philologischen und pastoralen Kompetenzen zu verfügen;
– gerade auf dogmatischer Ebene scheint sie den ernsthaften Konflikt zu unterschätzen, der zwischen lex orandi und lex credendi entsteht, da es unvermeidlich ist, dass eine doppelte, dadurch konfliktreiche Form des Ritus eine signifikante Trennung im Ausdruck des Glaubens hervorruft;
– sie unterschätzt die störende Wirkung dieses „Ausnahmezustands“ auf kirchlicher Ebene, da ein Teil der Gemeinschaft gegen die „Gebetsschule“ immunisiert wird, die das Zweite Vatikanische Konzil und die Liturgiereform für das Leben der Kirche geschaffen haben.
Der „Ausnahmezustand“ begegnet jedoch auch auf ziviler Ebene heute als harte Notwendigkeit: Diese Tatsache ermöglicht uns jedoch eine größere kirchliche Weitsicht. Um zur kirchlichen Normalität zurückzukehren, müssen wir den liturgischen Ausnahmezustand überwinden, der vor 13 Jahren in einer anderen Welt, unter anderen Bedingungen und mit anderen Hoffnungen mit Summorum Pontificum begonnen wurde
Es macht keinen Sinn mehr, den Diözesanbischöfen ihre liturgische Kompetenz zu entziehen. Es macht keinen Sinn mehr, dass eine Kommission wie Ecclesia Dei (die de facto bereits abgeschafft wurde) oder eine Sektion der Kongregation für die Glaubenslehre weiter existieren, die den Diözesanbischöfen oder der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung die Autorität nehmen. Es macht keinen Sinn mehr, dass Dekrete erlassen werden, um einen Ritus zu „reformieren“, der in einer vergangenen, fest kristallisierten, leb- und kraftlosen Geschichtsepoche verkapselt ist. Für einen solchen Ritus kann es keine Wiederbelebung mehr geben.
Das Doppelregime ist ebenso vorbei wie auch die edle Absicht von Summorum Pontificum geschwunden ist. Die Lefebvrianer haben immer höhere Forderungen erhoben und sind dann weggelaufen, um das Zweite Vatikanische Konzil und den amtierenden Papst zusammen mit seinen drei Vorgängern zu beleidigen. Den „liturgischen Ausnahmezustand“ weiterhin zu alimentieren – der Einheit schaffen sollte, de facto aber nur Spaltung produziert –, führt nur zur Fragmentierung, Privatisierung und Verzerrung des Gottesdienstes in der Kirche.
Auf Grundlage dieser Überlegungen schlagen wir vor, gemeinsam die Kongregation für die Glaubenslehre aufzufordern, die beiden Dekrete vom 25.03.2020 unverzüglich zurückzuziehen und den Diözesanbischöfen sowie der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung alle Zuständigkeiten in Bezug auf die Liturgie zurückzugeben. Davon unbeschadet bleibt für die Kongregation für die Glaubenslehre, wie immer, ihre Kompetenz in doktrinären Fragen.
Verlassen wir endlich den „liturgischen Ausnahmezustand“!
Wenn nicht jetzt, wann dann?
Mit den besten Wünschen an alle Kolleginnen und Kollegen in diesen bitteren, lebensbedrohlichen, aber nicht hoffnungslosen Zeiten.
Andrea Grillo
(un ringraziamento cordiale al prof. Antonio Autiero, per la accurata traduzione)